Mai-Juni 2005
Ich war schon sehr gespannt, was mich
in diesem Land erwarten würde, das
ich in meinen Märchen immer als Paradies, wenngleich verloren
gegangenes, geschildert habe. Würde ich einen dieser traumhaften Paläste
noch sehen, mit den bunten Fensterscheiben, den Türmchen und Zinnen,
würde ich durch die engen Straßen und über die weiten Plätze
der Städte
lustwandeln können, würden die Kuppeln der Moscheen blaugrün
schillern,
so wie ich es in mir, in meinen Märchenwelten, gesehen hatte? Und
die
Landschaft, würde wenigstens sie ihr Versprechen halten, von Bächen
und
Flüssen, von Wiesen und endlosen Steppen, von hohen, schneebedeckten
Bergen, würde ich die Wüste sehen, die Nomadenzelte? Wie würden
mir die
Menschen begegnen?
Am 21. Mai hoben
wir in München ab und flogen über Dubai nach Kabul. Nach
einer Nacht im Haus unserer Freundin, der großen, tapferen
Frau und Begründerin der Hilfsorganisation Shuhada, Frau Dr.
Sima Samar, verließen wir noch vor dem Krähen des Hahns
die Stadt, fuhren eine kurze Strecke auf asphaltierter Straße,
und dann querten wir hinein ins weite Hochland von Hazarajat, in
die Heimat von Frau Dr. Samar, den Teil Afghanistans, in dem die
Nachkommen Dschingis Khans sich niedergelassen haben, wo einem
Kinder mit von der Kälte geröteten Pausbacken und Schlitzaugen
begegnen und Erwachsene mit von Wind und Wetter gegerbter lederner
Haut.
|

Margret Bergmann in Tabqos
bitte hier klicken für ein
größeres Bild... klicken »
|
Die Bauernhöfe alle aus Lehm, zum Teil während
der langen
Kriegs- und Flüchtlingszeiten von Regen und Wind abgetragen,
dabei, sich
wieder der Erde anzuschmiegen, aus der sie einst geformt worden waren,
und daneben die neuen Häuser der Zurückgekehrten.
Felder werden gerodet, gepflügt, Roggen wird ausgesät,
in waalartigen Kanälen wird Wasser auf die Felder geleitet. Schnellwüchsige
Pappeln
werden gepflanzt, die Stämme dienen als Stützen und Balken
beim Hausbau.
Ja, wir haben Glück. Nach den schweren Schneefällen
des letzten Winters
fließen die Bächlein, manche Flüsse bringen mehr Wasser
als sie führen
können, die Berge sind wie von zartgrünem Samt überzogen,
die Wiesen
stehen saftig, die Bäume setzen Blätter und Blüten
an. Eine
hoffnungsvolle Zeit, besonders für Hirten und Bauern, die
bis hoch oben
auf die Berge, weit über die Baumgrenze hinaus, noch Felder
bereitgestellt haben zur Aussaat. Wenn das Wetter nur weiterhin
günstig
bleibt und Regen bringt!
Ins Hazarajat führen keine Straßen,
nur Trampelpfade, von Lastwägen
gezogene Fahrspuren, die nach dem Regen zu Schlammwannen werden, sich
in
trockenen Zeiten jedoch in Staubschüsseln verwandeln. Nur
im Vierradantrieb geht es voran – und auch das nicht immer –,
unsere
Fahrzeuge klettern Forellen oder Lachsen gleich Katarakte hinauf,
wir
erklimmen über 4000 m hohe Pässe, wir pflügen
unseren Weg durch moorigen
Sumpf – und dann kommen wir endlich doch an unsere Ziele.
Denn das ist Sinn und Zweck unserer Reise:
die Projekte von Shuhada zu
besichtigen, uns zu erkundigen, wie es in den Hospitälern,
den Schulen weitergeht, zu erfahren, ob Fortschritte gemacht
wurden, Medikamente
zu
bringen, von notwendigen neuen Projekten zu hören. Diese
tragen wir dann
heim, in der Hoffnung, nein, in der Zuversicht, hier im Lande
offene,
hilfsbereite Herzen zu finden.
Im hintersten Lal und Sare Jangle, wo der
Winter acht Monate dauert und
die Orte wie Maulwurfhügel unterm Schnee begraben liegen,
hier halten Shuhada-Ärzte durch, hier versorgen sie nach besten Möglichkeiten
die
Kranken, hier werden Kinder geboren, hier besuchen sie, stundenlange
Märsche in Kauf nehmend, Kranke zuhause. 800 Menschen
sind in dieser abgeschiedenen Gegend im letzten Winter erfroren!
Auch wir frieren erbärmlich: jeden Tag
eine Kleiderschicht mehr am
Körper, jeden Tag ein bisschen weniger Abwaschen,
was soll´s
auch, man
schwitzt nicht in dieser Kälte, wo im Juni noch Schnee
und Graupel fällt.
In Jaghori eine größere Klinik. Da sitzt eine
junge Frau in der
Artpraxis. Fünf Stunden lang ist sie auf dem Eselsrücken
hergeritten, um
einen Arzt zu sehen. Verängstigt-hoffnungsvoll schaut
sie uns an. Oder
der arme Alte (wie alt wohl?), der mir mit schmerzverzerrtem
Gesicht
beide Hände entgegenstreckt, und meine Hand küsst,
als ich die seinen
nehme und drücke. Ach, was könnte ich nur tun für
dich? Und die Kinder,
die so lange „rotzen“ und husten, bis sie gelernt
haben, den Schleim
zurückzuziehen und auszuspucken. Wie viele Krankheitskeime wüten
bis
dahin in ihren Körpern! Nur die Kräftigsten überleben
die ersten Jahre.
Herzerwärmend die Freundlichkeit, mit der wir überall
empfangen werden,
die Dankbarkeit! Dankbar für den Besuch, für die Medikamente,
für die
Geschenke. Dankbar für ein Paar Schuhe, die ich
entbehren kann, dankbar
für den Armreif, den ich einer Frau ums Handgelenk lege, dankbar für
jedes Lächeln, für jede Geste der Zuwendung und für
jeden offenen Blick,
der aus dem Herzen kommt. Wie oft bin ich gegen sogenannte
Gesellschaftsregeln verstoßen, weil ich einfach
tun musste, was mir das
Herz, nicht die Gesellschaftsregel, die Vorschrift, gebot.
Endlich der Tag, an dem ich „meine“ Schule
in Tabqos besuchen darf!
Meine Schule, weil ich sie durch mein Märchenerzählen
und durch den
Erlös meines Buchs „He du, großer
Komet!“ finanzieren
kann. 760 Mädchen
und junge Frauen besuchen die Schule, die nach 12 Jahren
Unterricht mit
der Reifeprüfung endet und den jungen Frauen die Türen zur Universität
aufschließt.
Der Schulweg dauert für viele bis zu
2 Stunden, noch im Dunkeln machen
sie sich auf den Weg, um den Unterrichtsbeginn nicht
zu versäumen,
und
erst spät am Nachmittag kommen sie wieder heim.
Manche Lehrerin hat ihr
Baby mit in den Unterricht gebracht, und es wird
von den Schulmädchen
liebevoll umsorgt. Auch größere Mädchen
bringen gelegentlich ihr kleines
Geschwisterchen zum Unterricht mit. Doch es gibt
kein Geschrei, kein
Schimpfen, die Kinder verhalten sich ruhig, sind
es gewohnt, aufeinander
Rücksicht zu nehmen.
Eine Klasse schreibt gerade ihre Schularbeit: die
Mädchen sitzen
weit
verstreut im Schulhof, unter der prallen Sonne,
damit sie nicht
voneinander abschreiben können. Ja, damit sie
nicht voneinander abschreiben können, denn in den Klassenräumen
sitzen sie so eng, wie
Sardinen in Dosen gepresst, auf ihren Bänken
oder auf dem Boden, dass
ihr Blick das Heft, das Blatt der Nachbarinnen
unwillkürlich mit
einschließt.
Wie in allen Shuhada-Schulen, die wir besuchen,
in allen Shuhada
Krankenhäusern und im Waisenhaus, das die Provinz
Bozen finanziert hat,
werden wir auch hier herzlich begrüßt,
wir teilen die Buntstifte und
Papierblätter aus, damit wir für die Pateneneltern
Zeichnungen mit nach
Italien bringen können. Während die Kinder
malen, gibt es im Lehrerzimmer Tee und lange Gespräche
in Dari, der Landessprache. Es wird
gelacht, es wird berichtet, Bedürfnisse werden laut.
Man braucht hier in Tabqos ein drittes Haus
(zwei Schulhäuser gibt
es
bereits), die Kinder ersticken förmlich in den
engen Räumen,
60.000 € kostet
der Bau. „Margret, hast du eine Grube,
aus der du 60.000€ schöpfen kannst?“,
fragt mich Evelina Colavita, meine Freundin
und
Mittelsperson für meine Afghanistanhilfe. „Ich werde eine
finden!“ Und so bin ich mit einem großen Auftrag zurückgekommen,
einem Auftrag,
dem ich mit all meinen Kräften und Möglichkeiten nachkommen möchte.
Vielleicht, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter
für eine bessere
Zukunft in unserer Welt, wisst ihr einen Weg
zu dieser Grube? Sicher
führt nicht nur ein Weg dorthin.
Herzlichen Dank!
Margret Bergmann
P.S. Mein Buch „He du, großer Komet!“ kommt in Kürze
als „Ciao, cometa!“ in italienischer Sprache auf den Markt. Sollten
die Bücher in den
Buchhandlungen nicht lagernd sein, können sie
beim Provinz-Verlag in
Brixen bestellt werden.
Die 3. Klasse der Grundschule Terenten hat
das Buch als Theaterstück
auf
die Bühne gebracht: ein wirklich gelungenes Unterfangen!
|